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Der andere Blick? – Was Coronakrise, Verkehrsplanung und Männer gemeinsam haben

„Wenn es um Mobilität geht, bestimmen seit Jahrzehnten vorwiegend Männer die Rahmenbedingungen“, so stand es in der aktuellen Ausgabe der Veloplan (einer übrigens sehr ansprechenden, neuen Zeitschrift über Radmobilität. Auch wenn man die aktuelle Krisensituation anschaut, fällt eines auf. Die Krisenmanager sind, abgesehen von der Bundekanzlerin,  überwiegend Männer. Dazu kommt: wer sich jetzt beweist, überlegte und nachvollziehbare Entscheidungen trifft, die richtigen Worte wählt, empfiehlt sich für Größeres. Krisen machen Karrieren – Männerkarrieren.

Doch wo sind eigentlich die Frauen geblieben? Im homeoffice, wo sie  neben ihrer Arbeit die Beschulung, die Kindergartenbetreuung und das häusliche Kulturprogramm managen. Wo sie versuchen, den Alltag am Laufen zu halten, den Einkauf erledigen, der umständlich geworden ist mit dem im heutigen Deutschland ganz ungewohntem Phänomen des in der Schlange stehen. Dazu kommen Haushalt (das ist anders und meistens gibt es mehr zu tun, wenn alle daheim sind) und ein höherer Aufwand beim Kochen. Wenn Restaurants geschlossen haben, muss irgendjemand für das Mittagessen sorgen. Das sind meistens Frauen. Frauen tragen die Hauptlast, auch bei der Pflege und dem irgendwie Aufrechterhaltens des Kontaktes  mit betagten Angehörigen, die jetzt Risikogruppen heißen. Frauen tragen die emotionale Last, wenn Nerven zunehmend blank liegen. Vor allem berufstätige Mütter werden in der Öffentlichkeit aktuell immer unsichtbarer. Sie sind regelrecht verschwunden. In erschreckender Weise vollzieht unsere Gesellschaft eine, nein zwei Rollen rückwärts. Denn diese Situation geht auch an den Männern nicht spurlos vorüber. Nicht wenige Männer fallen in längst überkommende, patriarchal konnotierte Rollenmuster zurück. Das Schlimmste ist, dass Frauen offenbar gerade überhaupt keine Zeit haben, für ihre Belange einzutreten. Zudem sind schlechter vernetzt. Für für viele jüngere Frauen ist Feminismus ein Schimpfwort, stand ihnen die Welt doch grenzenlos offen. Wozu braucht es da Lobbygruppen.

Und was hat das mit Verkehrsplanung zu tun? Landaus landab wird über die Mobilitätswende diskutiert. Doch tatsächlich betreiben wir vielfach vor allem Verkehrsplanung aus einem technisch- funktionalen Blickwinkel. Deshalb an dieser Stelle ein kurzer Blick auf die fachlichen Begrifflichkeiten. Mobilität ist per Definition die Beweglichkeit von Personen zur Befriedigung von Bedürfnissen durch Raumveränderung. Verkehr wiederum ist das Instrument, welches für die konkrete Umsetzung von Mobilität benötigt wird. Verkehr umfasst Fahrzeuge, Infrastrukturen und die Verkehrsregeln (aus: Becker, Gerike, Völlings: Gesellschaftliche Ziele von und für Verkehr. In: Heft 1 der Schriftenreihe des Instituts für Verkehr und Umwelt e.V., 1999). Verkehr ist also nur das Instrument zur Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen, Verkehrsplanung ist das fachliche Mittel.

Mobilitätsbedürfnisse sind je nach persönlicher Lebenssituation und Arbeitswelten unterschiedlich. In der Betrachtung der  zurückgelegten Wege gibt es große Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Männer legen durchschnittlich 46 km am Tag zurück, Frauen 33 km (Mobilitätsatlas, Daten und Fakten für die Mobilitätswende, 2019). Auch die Verkehrsmittelwahl bezogen auf die zurückgelegten Wege ist unterschiedlich. Während die Nutzung des öffentlichen Verkehrs  nahezu gleich ist, zeigt sich bei den mit dem Auto zurückgelegten Wegen ein krasser Unterschied. Männer legen mit dem Auto 29 km am Tag zurück, Frauen nur 14. Der Mobilitätsatlas schreibt deshalb treffend: „Insgesamt dürfen Straßen mit viel Autoverkehr als männlich dominiert gelten.“

Auch die Mobilitätsmuster sind unterschiedlich und spiegeln weitgehend fest verteilte Rollen im Alltag wieder. Dies sei anhand zweier „Extreme“ dargestellt.

Der berufstätige Mann: Das Mobilitätsmuster ist dreiecksförmig zwischen Wohnung  – Freizeit –   Arbeitsort. Die multimodalen Verknüpfungen und Interaktionen im öffentlichen Raum sind gering. Die Wege sind länger.

Die berufstätige Frau mit Kindern: Das Mobilitätsmuster ist netz- bzw. sternförmig zwischen  Wohnung –  Freizeit – Wohnung – Eltern/Freunde – Freizeit der Kinder – Wohnung – Schule/Kita – Einkaufen –  Arbeitsort. Die multimodalen Verknüpfungen und Interaktionen im öffentlichen Raum sind hoch. Die Wege sind kürzer, dafür häufiger.

 

Die Berliner Mobilitätsberatung „White Octopus“ formulierte deshalb in einer aktuellen Studie zu Recht, dass Mobilität nichts geschlechtsneutral ist und männliche Vorlieben haben kann (aus: A Man´s world. In: Veloplan 1/2020).

Schließlich kommt auch noch dazu, dass sich die Wahrnehmung der konkreten Bedingungen im öffentlichen Raum und bei der Mobilität unterscheidet. Eine Umfrage des Tagesspiegels  zur Radverkehrssituation in Berlin zeigt, dass 41 % der befragten Frauen große Angst haben beim Radfahren, hingegen nur 11 % der Männer (fairkehr, 2/2020). Viele Situationen, die Männer als vollkommen normal wahrnehmen, bereiten Frauen so viel Unbehagen, dass sie in Vermeidungsstrategien übergehen und damit im schlimmsten Fall ihr Mobilitätsverhalten einschränken. Zu dichtes Überholen, aggressives Verhalten, parkende Autos auf Radwegen, schlechter Zustand von Geh- und Radwegen, zum schmale Geh- und Radwege, nicht ausreichend ausgeleuchtete Wege und Straßen, fehlende Bänke zum Ausruhen und überhaupt zu wenig Platz im öffentlichen Raum – darunter leiden vor allem Frauen, Kinder und mobilitätseingeschränkte Menschen.

Diese Fakten haben bisher zu wenig Eingang in die Planung gefunden. Verkehrsplanende sind überwiegend Männer und betrachten die Welt aus ihrem meist technisch-funktionalen Blickwinkel und auch aus dem Selbstverständnis heraus, dass Männer mehr Raum in der Gesellschaft sowie den politischen und fachlichen Debatten haben. Auch die meisten politisch-fachlichen Entscheidungen zu Verkehrsplanungen werden durch Männer getroffen, denn Bürgermeister und Gemeinderäte sind häufiger Männer. Auch die Partizipations- und Beteiligungsstrategien berücksichtigen die unterschiedlichen Blickwinkel nicht. In den Beteiligungsveranstaltungen zu Verkehrsthemen sitzen überwiegend Männer, jenseits der 60, ausgestattet mit einem gesegneten Sendungsbewusstsein und unerschütterlichem Bewusstsein dafür, was richtig und was falsch ist.

Dabei könnte das Verständnis der unterschiedlichen und anderen Perspektiven die Mobilität aller verbessern. All das zeigt sich in der aktuellen Situation, in der plötzlich mehr zu Fuß gegangen und deutlich mehr Rad gefahren wird, in der der öffentliche Raum und der Verkehrsraum eine ganz neue Bedeutung bekommen und in der die Defizite unserer öffentlichen Räume für alle, auch für die Männer, plötzlich sehr deutlich zu Tage treten. Mobilitätswende und das Leitbild der menschengerechten Stadt können deshalb nur erfolgreich sein, wenn andere als die jahrzehntelang vorherrschenden Sichtweisen berücksichtigt werden. Und damit sich wirklich etwas ändert, reicht es nicht, wenn sich Männer in die Bedürfnisse „anderer“ hineinversetzen. Es braucht den Blick und die Sichtbarkeit der Frauen, es braucht mehr Partizipationsprozesse, die Frauen und Kinder berücksichtigen, Befragungen, die gezielt nach den Bedürfnissen von Frauen fragen, es braucht mehr Verkehrsplanerinnen und Entscheiderinnen. Und es braucht auch die Bereitschaft von Frauen, sich einzumischen. Es braucht den anderen Blick – und schon allein, dass schreiben zu müssen, macht irgendwie auch traurig.